Der Glaube kann Berge versetzen, aber kein Virus auslöschen. Ein Pfarrer, ein Imam und ein Rabbiner diskutieren die Rolle der Religion in der Corona-Krise: vom Eiertütschis über Video-Gebete bis zur Frage nach dem Warum.
«Religionen müssen in schwierigen Situationen zusammenstehen.» Imam Mustafa Memeti, 57, Pfarrer Christian Walti, 37, und Rabbiner Michael Kohn, 35, tauschen sich im Haus der Religionen aus.
Vor dem Haus der Religionen am Berner Europaplatz drückt ein Mann in Anzug, Krawatte und mit Kippa auf seinem Handy herum. Es ist Michael Kohn, 35, Rabbiner der Jüdischen Gemeinden Bern und Biel.
Eine Minute später hüpft Christian Walti, 37, vom Velo, ohne Kippa, dafür mit Helm. Der Pfarrer der reformierten Friedenskirche Bern begrüsst Kohn freundlich. Dazu stösst Imam Mustafa Memeti, 57.
Jetzt schreiten die drei Diener Gottes in den blauen Glaskasten, in dem sich die Weltreligionen unter einem Dach begegnen und austauschen. Zum Gespräch mit der Schweizer Illustrierten setzen sie sich nicht in einen der prächtigen Sakralräume, sondern in ein neutrales Seminarzimmer.
Es ist Montag, drei Tage bevor religiöse Zusammenkünfte nach mehr als zwei Monaten – unter Auflagen – wieder erlaubt sind: zwei Meter Mindestabstand, Teilnehmer müssen sich registrieren, kein Gesang, kein Abendmahl.
Freuen Sie sich auf den ersten Gottesdienst?
Christian Walti: Es ist eine schwierige Entscheidung, ob wir überhaupt öffnen. Niemand soll sich unter Druck fühlen, teilnehmen zu müssen. Sonntagsgottesdienste haben in der reformierten Kirche nicht oberste Priorität, sondern Fürsorge und Gebet im Alltag.
Michael Kohn: Wirklich? Bei uns war das gar keine Frage, wir beten ab Donnerstag wieder in der Synagoge. Es
ist nicht schlimm, wenn manche fernbleiben. Viele werden sich über mehr Platz freuen. Das Gesangsverbot schmerzt mich auch nicht. Einige sollten generell weniger singen (lacht).
Imam Mustafa Memeti: «Die Pandemie ist keine Strafe Gottes. Auch Unschuldige sind betroffen.»
Joseph Khakshouri
Gottesdienste sind zu Pfingsten (31. Mai) und zum jüdischen Wochenfest Schawuot (28.–30. Mai) wieder erlaubt.
Nur fürs muslimische Fest des Fastenbrechens (24. Mai) reichte die Öffnung nicht.
Herr Memeti, hat der Bund die Muslime vergessen?
Wir feierten das Fastenbrechen innerhalb der Familie statt an grossen Festen. Und trotzdem waren die schönen Gefühle spürbar. Das hat mich positiv überrascht.
Trotzdem dürfen auch Sie ab dem 28. Mai wieder Gläubige in der Moschee empfangen.
Sind Sie bereit? Durch die Abstandsregeln werden weniger Gläubige Platz finden. Wegschicken dürfen wir aber niemanden, sonst ist der Gottesdienst nach islamischem Glauben ungültig! Wir müssen wohl mehrere pro Tag feiern.
Walti: Auch unsere Grundsätze verbieten es, jemanden wegzuschicken. Wenn jemand krank ist und hustet oder wenn jemand seinen Namen nicht angeben will, suchen wir eine Lösung.
Kohn: Das kann doch nicht sein? Wir können nicht gegen die Massnahmen des Bundes verstossen und die Sicherheit der Teilnehmenden riskieren.
Damit habe ich ein Problem.
Walti: Wir sagen Ja zu den Auflagen. Aber wir möchten auch niemanden wegschicken, es ist ein Dilemma.
Für die Fotos mit der SI gehts in den christlichen Sakralraum, danach in die Moschee. Hier ziehen alle die Schuhe aus und versinken im flauschigen Teppich. Während der Imam fürs Foto posiert, unterhalten sich Walti und Kohn auf Dänisch. Der Pfarrer studierte in Dänemark, der Rabbiner stammt aus Norwegen. Man versteht sich.